Nähe

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Die Nähe zwischen Menschen ist etwas Ersehntes und etwas Gefahrvolles zugleich. Wir Menschen reagieren auf einen der Wünsche unseres Ursprunges mit einer ganz besonderen Form der Gespaltenheit. Einerseits wünschen wir uns die Nähe zu einem oder mehreren Mitmenschen und andererseits bemühen wir uns fast schon instinktiv darum eben diese Nähe nicht zuzulassen. Verschiedenste Verhaltensweisen stoßen das Gegenüber immer wieder zurück – teils aus Lust, Reiz, aber auch aus Angst dass diese Grenzüberschreitung uns zutiefst verletzen könnte.

Erst nach einer langen Zeit des aufgebauten Vertrauens trauen wir uns immer etwas mehr Nähe zuzulassen und gleichzeitig schreien ganz viele menschliche Wesen und deren Körper nach Nähe – am liebsten gleich und sofort.

Wir trauen uns die Differenzierung welche uns zum Beispiel die Katzen vorleben selbst nicht mehr zu. Katzen kommen zum Kuscheln, nehmen sich das was sie brauchen und geben uns dabei auch etwas, und wenn es ihnen reicht, dann gehen sie auch ganz schnell wieder ihres Weges. Was wäre, wenn wir als Menschen so handeln würden wie unsere lieben Mitgeschöpfe, die Katzen? Gleich stände wieder die Angst vor der Tür, mit den Worten: "Darf ich mich jetzt einfach so ankuscheln?" und wenn diese Phase abgeschlossen ist: "Darf ich jetzt einfach so wieder gehen, so ganz ohne Erklärung, so ganz ohne vorwurfsvolle Blicke oder Gefühle zu kassieren?" Vielleicht haben wir aus diesem Grund Angst vor der Nähe, weil wir nicht gelernt haben, wie wir sie auch wieder ohne Schuldbewusstsein auflösen können.

Doch Nähe zu einem Menschen beinhaltet ja noch wesentlich mehr als die Körperlichkeit, wobei gerade diese sicherlich in der heutigen Zeit immer wieder in den Vordergrund gedrängt wird weil sie einfach unbefriedigt dahinvegetiert.

Wie die Nähe entsteht und welche Form davon ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Manchmal entsteht die körperliche Nähe durch vorhergegangene seelische Nähe, manchmal aber eben auch ganz anders, nämlich umgekehrt. Beide Distanzierungen schmerzen jedoch wieder, die seelische ebenso wie die körperliche.

Um uns nicht in Gefahr zu begeben suchen wir uns verschiedene, individuelle Sicherheitsmuster aus. Das krankmachende Ungleichgewicht können wir alltäglich beobachten: Selten begegnen uns Menschen mit einem ausgeglichenen, befriedigtem Lächeln auf den Lippen – nicht dem verkrampften Zwangslächeln (bitte tue mir nichts, ich mag dich ja). Selten begegnen uns wirklich Menschen, uns begegnen gepanzerte Wesen die auf Distanz bedacht sind, schließlich könnten sie gemocht werden.

Lassen sich dann doch zwei Menschen etwas aufeinander ein wird die Nichtkommunikationsschiene gefahren, welche zwar aus vielen Worten, aber nichts sagenden Inhalten besteht. Leer- und Füllwörter bestimmen neben dem belastenden Gesprächsstoff über Krankheiten eines selbst und der gesamten Umwelt derartige Nichtkommunikation. Es findet kein Austausch statt, weder von Informationen, noch von Gefühlen, sondern durch die so geführten Gespräche werden erneut Barrieren gebildet welche die Nähe fast schon automatisiert verbieten.

Wenn sie aus diesem Teufelskreis einmal hinauskommen wollen dann reden Sie doch einfach einmal von lustvollem Sex – Sie werden sich wundern wie schnell die kraftkostende Nichtkommunikation ein jähes Ende – meist durch den Wegfall des Gesprächspartners – findet.

Die Gefahr der wahrhaftigen Nähe liegt nicht darin das wir Angst davor haben sie eines Tages nicht mehr zu bekommen und durch diesen Verlust unerträgliche Schmerzen erleiden könnten, sondern darin das wir uns in dieser Nähe auflösen könnten. Wenn Sie einmal an ein wirklich interessantes und inhaltsreiches Gespräch mit einem ihrer besten Freunde denken, oder an hingabevollen lustvollen Sex, dann existiert die sie umgebende Welt für einen Moment nicht mehr. Die Zeit vergeht wie im Fluge und sie gewinnen sekündlich Energie dazu – Ihre Seele feiert Weihnachten und Ostern zugleich. Bei der Nichtkommunikation friert ihre Seele und sie verlieren Energie.

Wir gleiten durch das Leben, oder wir humpeln. Die Angst vor der Auflösung ist die Angst vor dem Tod – die Verhaftung an unseren sicheren Strukturen treibt uns in den seelischen Tod.

(2007)

ZeichnungPagePilgrim@troet.cafe 2023

 

Igor Warneck

Igor Warneck

Schreiben gehört seit meinem dreizehnten Lebensjahr zu mir. In der Zwischenzeit habe ich einige Bücher veröffentlicht, dann auch mal die Lust an dem Ganzen verloren und jetzt wiedergefunden.

Fotografie ist für mich das entdecken des Verborgenen, um es für meine Mitmenschen sichtbar und auffindbar zu machen.

Mein Ziel: Kreativität statt Rente – denn von der kann ich als lebenslang Selbständiger nichts erwarten. Dem Sozialstaat will ich nicht zur Last fallen und verzichte daher auf das was mir zustehen würde aus freien Stücken.

Lieber schreibe ich Texte für die Gemeinschaft – zur Unterhaltung, zum Nachdenken und gegen so manch alltäglichen Wahnsinn.

Ein Dasein als Lebenskünstler ist möglich – ich lebe es seit vielen Jahren. Wenn Du das unterstützenswert findest, kannst Du unter dem Link mehr darüber erfahren:

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