Ineinander schauen

von

Manchmal begegnen wir Menschen, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen und erst durch das weitere Beisammensein zu ihrer wirklichen Größe und Schönheit erwachsen.

So geschah es mir, als mich Johannes eines Abends zu späterer Stunde nach Hause brachte. Wir fuhren durch ein Wohngebiet und da tauchte im Scheinwerferlicht ein Igel auf. Er irrte auf der Straße hin und her, kam weder durch den einen Zaun, noch durch den anderen. Johannes bremste und fuhr an den Bordstein.

"Bist Du so nett und hebst den Kleinen mal über den Zaun?", fragte er mich.
"Na klar."

Ich ging zum Igel, der, als wisse er schon lange, was denn nun passieren würde, vor seinem offensichtlichen Wunschzaun saß. Erst hatte ich ein bisschen Bedenken, dass ich mich an seinen Stacheln verletzen könnte, verwarf dann aber die Bedenken und griff ihm vorsichtig unter den Bauch. Er rollte sich nicht ein, so als wisse er, dass hier Hilfe angeboten wurde und keine Gefahr drohte. Der Bauch war ganz weich und kuschelig, die Stacheln lagen so gut an, dass gar nichts pikste, aber auch so gar nichts. Weich setzte ich ihn in seinem Wunschgarten ab und verabschiedete mich von ihm mit den Worten: "Na dann noch einen guten Weg!"

Zurück im Auto sagte ich zu Johannes: "Jetzt hast Du bei mir aber mindestens 50 Bonus-Punkte gesammelt. Dass dies ein Mensch für ein Tier tut und das so selbstverständlich, das habe ich noch nicht erlebt. Danke schön!"

Daraufhin sagte er: "Wir Menschen sind das schrecklichste Raubtier auf dieser Erde und wir können das gar nicht wiedergutmachen. Den Tieren muss man doch helfen."

"Ja, und wenn es mehr Menschen wie Dich gäbe, dann können wir wirklich ein kleines bisschen wiedergutmachen."

Johannes: "Ich habe meine Kinder so erzogen."

Ich war sprachlos, überrascht und dankbar.

(2009)

ZeichnungPagePilgrim@troet.cafe 2023

Igor Warneck

Igor Warneck

Schreiben gehört seit meinem dreizehnten Lebensjahr zu mir. In der Zwischenzeit habe ich einige Bücher veröffentlicht, dann auch mal die Lust an dem Ganzen verloren und jetzt wiedergefunden.

Fotografie ist für mich das entdecken des Verborgenen, um es für meine Mitmenschen sichtbar und auffindbar zu machen.

Mein Ziel: Kreativität statt Rente – denn von der kann ich als lebenslang Selbständiger nichts erwarten. Dem Sozialstaat will ich nicht zur Last fallen und verzichte daher auf das was mir zustehen würde aus freien Stücken.

Lieber schreibe ich Texte für die Gemeinschaft – zur Unterhaltung, zum Nachdenken und gegen so manch alltäglichen Wahnsinn.

Ein Dasein als Lebenskünstler ist möglich – ich lebe es seit vielen Jahren. Wenn Du das unterstützenswert findest, kannst Du unter dem Link mehr darüber erfahren:

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