Gesträubte Nackenhaare
von Igor Warneck
Vor vielen Jahren war ich einmal im Vogelsberger Wald unterwegs und streifte vorsichtig durchs Unterholz. Ich wollte aus einem kleinen See ein paar dort lebende und wohlschmeckende Forellen stibitzen und musste einen Weg wählen, der für andere nicht einsichtig war. Ich war vorsichtig und wachsam, schließlich sollte mich niemand sehen bei meiner Jagd. Doch irgendwer beobachtete mich, aber ich sah niemanden. In dieser Zeit – ich war damals viel draußen und allein unterwegs, bemerkte ich Blicke auf bis über 300 Meter. Ich wartete, irgendwann musste der Beobachter ja zu erblicken sein. Nichts. Kein Knacken im Wald, nichts. Langsam stellten sich auch noch meine Nackenhaare, es wurde mir doch unheimlich. Da sah ich plötzlich meinen Beobachter.
Puschelohren lugten hinter einem Baum hervor und da wir uns nun beide ganz öffentlich in die Augen schauten, brauchte sich keiner mehr zu verstecken. Meine aufgestellten Nackenhaare wechselten zu einem Freudenschauer: Ich schaute auf 5 Meter Entfernung einem ausgewachsenen Luchs in die Augen. Mir war ein bisschen, als ob er geblinzelt hätte, bevor er mir den Rücken zudrehte und seinen Weg weiterverfolgte. Ich habe dann noch lange an diesem See gesessen – die Forellen waren vergessen – und diese wunderschöne Begegnung nachgenossen.
(2002)
Zeichnung: PagePilgrim@troet.cafe 2023